„La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz in der Neuinszenierung der Oper Stuttgart – schauspielender Opernchor, stimmgewaltige Sänger, originelle Bühnenbilder, aufwändige Kostüme.
Turbulenter Start der Oper.
Ein abgehalfterter Dokumentarfilmer, der seine Kamera nur noch als Requisit nutzt, sieht sich von Menschenmassen überrollt. Zigeuner stören Faust (Pavel Černoch) in seiner depressiven Stimmung, diese „Ethnische Minderheit ohne festen Wohnsitz“, die fröhlich eine Hochzeit feiert. So richtig glücklich scheint die Braut nicht zu sein – ihren Handtaschen-Attacken nach zu urteilen. Tanzen will sie nicht mit ihrem Bräutigam, der für seine Bemühungen mit Knüffen belohnt wird. Auf dem Boden scharen sich die Männer vor einem kleinen Transistorfernseher. Dem Minenspiel nach sehen sie entweder ein Fußballspiel oder einen Actionfilm. Aus dem Wohnwagen holen die Frauen Unmengen von Campingstühlen, ein paar Klapptische, Dosen mit Köstlichkeiten – ein Fest mit der ganzen Sippe unter freiem Himmel.
Diese Anfangsszene in Ungarn, siehe → Inhalt / Handlung: Fausts Verdammnis gehört zu den schönsten in dieser bilderreichen Inszenierung. Das liegt an den Kostümen, an der Maske und vor allen Dingen am Chor (des Jahres 2011). Mimik, Gestik und Gesang sind genau aufeinander abgestimmt. Andrea Moses gehört zu den Regisseurinnen, die viel von den Sängern fordern und an darstellerischen Fähigkeiten aus ihnen herausholen. Auch die anderen Sänger punkten als Darsteller, wie Mark Munkittrick als der schmierige Brander. Ebenfalls souverän mit kräftiger Stimme singt der Bariton Robert Hayward den Méphistophélès.
Der Rede wert sind die fantasievollen Bühnenbilder und Kostüme von Christian Wiehle.
Was geht in Fausts Kopf vor? Das können die Zuschauer mit verfolgen, denn sein Kopf nimmt die ganze Bühne ein. Die Elfenszene am Ufer der Elbe, siehe → Teil 3 – Mephisto bringt Faust in Marguerites Zimmer spielt in einem Schlaflabor. Der Chor singt im Hintergrund zarte Wiegenlieder, während sich Fausts Riesenkopf mit Bildern füllt. Er fliegt über Felder, Wälder, Flüsse, unter Brücken hindurch. Am Ende seiner Traumreise setzt sich das Bild von Marguerite in seinem Kopf fest.
Ebenfalls originell ist das Idyll in den gekippten gotischen Kirchenfenstern. Hier wohnt Marguerite (Maria Riccarda Wesseling); hier singt sie ihr Lied vom König von Thule (ein richtiger Ohrwurm, den ich während des Schreibens noch mitsumme); hier trifft sie Faust; hier spielen die Irrlichter – wunderbar singt und spielt der Kinderchor. In Matrosenkleidern fangen sie einander, lassen Drachen steigen, üben Geige.
Nach der Höllenfahrt wird Faust in eine gläserne (Kunststoff)Kugel verfrachtet und quer über die Bühne gerollt. Er wird zum Spielball der Bösen, ohne selbst steuern zu können.
Erst Idylle, dann Gewalt.
Andrea Moses „Roter Faden“ ist vom Prinzip her einfach und zieht sich durch die ganze Operninszenierung. Sie scheint eine Vorliebe für drastische und Gewaltszenen zu haben. Alles Positive, Erfreuliche bekommt sofort einen negativen Schlusspunkt.
Zigeuner feiern fröhlich eine Hochzeit – schon kommen Soldaten der Nationalgarde und prügeln alles nieder.
Margarete wartet freudig und sehnsuchtsvoll auf ihren Faust; meint seine Schritte zu hören – zur Tür herein kommen drei der Lederkluft-Soldaten und vergewaltigen sie.
Am Schluss verwandelt sich Mephisto in einen Kardinal – geläutert? Oh nein, er gibt Marguerite eine vergiftete Hostie, an der sie stirbt.
„Fausts Verdammnis“ – das Schlechte am Schluss.
Inhalt / Handlung: Fausts Verdammnis (La Damnation de Faust) – Oper von Hector Berlioz
„Fausts Verdammnis“ in der Stuttgarter Oper – Bilder im Kopf
Fausts Verdammnis von Hector Berlioz in der Oper Stuttgart
Musikalische Leitung: Kwamé Ryan
Regie: Andrea Moses
Bühne und Kostüme: Christian Wiehle
Licht: Reinhard Traub
Video: Timo Schierhorn
Chor: Michael Alber
Dramaturgie: Thomas Wieck
Fotos: A.T. Schaefer
Besetzung am 5. November 2011:
Marguerite: Maria Riccarda Wesseling
Faust: Pavel Černoch
Méphistophélès: Robert Hayward
Brander: Mark Munkittrick